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Sabine B. Vogel - Ein Spiel mit der Welt

I.
Eine Teppichbahn schwebt in der Luft, ein riesiger Ballon füllt die Schalterhalle des Südbahnhofs, ein Innenraum brennt.
Manchmal bedarf es eines zweiten Blickes, um das Ereignishafte der Fotografien zu entdecken, etwa wenn neben dem
dominanten Panoramafenster eines Einfamilienhauses unkontrolliert Wasser die Treppe herunter stürzt. Meist aber sind
die performativen Momente zentral im Bild, als stille Helden einer unerwarteten Aktion.
Werner Schrödl nennt seine Fotografien ´Skulpturen´. Vor fast zweihundert Jahren erklärte Johann Wolfgang Goethe:
„Der Hauptzweck aller Skulptur ist, dass die Würde des Menschen innerhalb der menschlichen Gestalt dargestellt werde.“
Damals galt der Mensch als zentraler Gegenstand der Bildhauerkunst. Anfangs stehen und sitzen auch in Schrödls
skulpturalen Arrangements noch Menschen, zunächst als Playmobil-Figuren in seinen Miniatur-Modellwelten, dann als
Statisten, real, aber sie treten nicht als Handelnde auf, sondern in eingefrorenen Positionen. In den neueren Werken
kommen Menschen entweder in Abwesenheit vor, als jene, die die „Baumverlängerung“ vorbereiten und ausführen.
Oder als Akteure wie in den fotografischen Dokumentationen der verschiedenen Weisen, ins Wasser zu gelangen,
wie in „Kenterung“, „Ferrari“ oder „Aktion Hund“. Ob in An- oder Abwesenheit, die Menschen sind nie die Bild-Helden.
Ihre ´Gestalt´ ist unerheblich, ihre Funktion der Skulptur, und d.h. in Schrödls Werken der Aktion untergeordnet. Das
Skulpturale findet in den momenthaften Elementen statt, im Flüchtigen. Wie wenig die Menschen dazu beitragen, wird
besonders deutlich in „Wetterballon“: Ein riesiger Ballon schwebt unter der Decke der leeren Schalterhalle. Am Rand sitzen
Männer auf einer Bank, unbeteiligt, als passiere hier gar nichts und erst recht nichts Außergewöhnliches. Sie sind nicht
einmal Statisten, sondern eher Inventar, ein Teil der vorgefundenen Welt, des Rahmens.
II.
Schrödls ´Skulpturen´ basieren auf Handlungen, ohne jedoch als Performances bezeichnet werden zu können. Denn der
Aspekt der Aufführung, des Bühnenhaften tritt entschieden zurück hinter den skulpturalen Qualitäten der Situation. Daher
sind auch nicht die Handlungsgründe – etwa die Wege ins Wasser – entscheidend, sondern die bildlichen Momente,
in denen etwas Unerwartetes, manchmal ein unerklärliches Geheimnis sichtbar wird. Anders als etwa Erwin Wurms
„One Minute Sculptures“ bringen diese Momente ihre eigenen Bedingungen mit. Während Wurm seine Arrangements
im Alltag mit jederzeit gegenwärtigen Dingen und unspezifischen Menschen ausführt, bedürfen Schrödls ´temporäre
Skulpturen´ wie „Rauchring“ oder „Glühskulptur“ dezidierter Orte und gezielter Planungen, die Schrödl oft vorab bereits
skizzenhaft festgelegt. Das Grundmaterial ist dabei die Welt als Möglichkeitsraum, den er in seinen frühesten Werken
modellhaft nachstellte und jetzt performativ neuordnet. Das kann die Form eines Ballons, aber auch den Vorgang des
Selbstversenkens annehmen, wenn er auf einer Glasplatte steht und mit Schlägen den fragilen Untergrund zerstört.
III.
Schrödl scheint das Geheimnisvolle, Unerwartete, kaum Mögliche wieder in die Welt bringen zu wollen. Das lässt sich
allerdings nicht manifest machen, so kann es nur eine flüchtige Handlung, ein Moment sein, eingefroren im fotografischen
Bild. Darin liegt vielleicht auch die größte Differenz zu den Werken von Roman Signer, der seine Fotografien als
´veränderliche Skulpturen´ bezeichnet, damit die Dimension der Zeit betonend. Aber anders als Signer interessiert
sich Schrödl nicht für performative Zustandsänderungen und Umdeutungen physikalischer Naturgesetze, sondern für
das Unmöglich-Mögliche. Es ist ein Spiel mit der Wirklichkeit, die auf ihre Stabilität überprüft zu werden scheint, auf ihre
Unumstößlich- und damit auf ihre Verbindlichkeit.
Folgt man der Quantenphysik und den Neurowissenschaften, so kann von der einen, verbindlichen Wirklichkeit tatsächlich
keine Rede sein. Wirklichkeit ist eine kognitive Konstruktionsleistung. Was wir wahrnehmen, ist ein Endprodukt, das durch
selektive Wahrnehmung, durch Kodieren, Vernachlässigen, neuronales Raten und montierendes Schneiden und Einfügen
entsteht. Das beginnt bereits im Auge, das den visuellen Input zerteilt und neu zusammenfügt. Im nächsten Schritt erfahren
wir Wirklichkeit über Sinnesdaten, die als chemische und elektrische Impulse weitergeleitet werden, als Daten verknüpft
und manchmal mit Begriffen aus unserem Erfahrungsbereich belegt werden. Unsere Körper nehmen die Informationen
über Nerven auf, in den Spitzen der Neuronenbahnen, die sich in den Fußsohlen, in den Haaren befinden, die Moleküle
aus der Luft in den Nasenhöhlen abtasten und von den Lichtdetektoren in den Augen. Das Nervensystem leitet die
Informationen weiter, durch das limbische Gehirn (das emotionale Zentrum des Gehirns). Das instinktive und emotionale
Gehirn löst dort signalisierende Erregungen (Aufregung, Ekel) aus und bei einer „bedeutungsvollen Zündung“ wird die
Information zu den Speichern des Geistes weitergeleitet - alles ist miteinander vernetzt und geschieht fast gleichzeitig. Erst
wenn alle Informationen gesammelt und vernetzt und bewertet sind, wird das Bild zur linken Großhirnhälfte übermittelt
und dem Bewusstsein als ein vollendetes Panorama präsentiert – wobei noch nicht geklärt ist, wo sich das Bewusstsein
befindet, möglicherweise nicht nur in, sondern auch außerhalb von uns. Wir sehen also nicht das Ergebnis einer unmittelbaren
Wahrnehmung, sondern einer Konstruktion, die „fast einem fragilen Kunstwerk gleicht“ (H. Bloom).
„Wirklichkeiten treten hervor, entfalten sich, werden sichtbar, wirken überzeugend und verblühen zuletzt“ schreibt Gerhard
Fasching in seiner Publikation „Illusion der Wirklichkeit“. Wirklichkeit, das ist eine Möglichkeitsform. Und genau darin liegt
die Faszination von Schrödls temporären Skulpturen, die nämlich Unerwartetes sichtbar und damit möglich machen. Sein
Spiel mit Möglichkeiten, mit der Welt, hinterlässt in den Fotografien dann eine skulpturale Spur, bisweilen komprimiert in
dem einen einzigen Bild, oder wie in „Selbstversenkung“ in einer Bildfolge, poetisch oder brachial, präzise inszeniert und doch
geheimnisvoll, eingefrorene Augenblicke und immer auch filmische Geschehen – es sind Wege, den Raum des Möglichen zu
erweitern, und sei es nur für einen Moment.